Tschernobyl

Zweieinhalb Jahre nach dem Supergau im Block 4 des sowjetischen Atomkraftwerkes Tschernobyl kam ich im Oktober 1988 das erste Mal in die Stadt Tschernobyl. Eingeladen hatte mich und andere deutsche Atomkraftgegner damals der sowjetische Schriftstellerverband. Mein bisher letzter Besuch im Sperrgebiet fand am 26. April 2016 statt, dem 30. Jahrestag der Katastrophe.

Im April 2021 sind es schon 35 Jahre, in denen versucht wird, die Folgen der Explosion von Block 4 unter Kontrolle zu bekommen. Im Lauf der Jahrzehnte, in denen ich zumeist zu den runden Jahrestagen in das Sperrgebiet zurückkehrte, habe ich verstanden, dass eine atomare Katastrophe kein Danach hat. Für sehr viele Menschen der damaligen Sowjetunion, die heute zu einem großen Teil Bürger der Ukraine oder von Belarus sind, hat die Explosion von Block 4 in Tschernobyl die Vergangenheit und die Gegenwart zerstört. Sie haben ihre Heimat, ihre Häuser, ihre Gräber und ihre Gesundheit verloren. Die Folgen des bisher größten atomaren Unfalls betreffen noch ihre Kinder und verderben ihnen die Zukunft.

Als ich das erste Mal kam, begleitete mich der ukrainische Journalist und Arzt Jurij Shcherbak. In seinem Buch Protokolle einer Katastrophe beschreibt er seine Tage und Wochen mit den Liquidatoren als eine Zeit, in der „hinter den Vorhang der Nacht“ geblickt werden konnte‚ in „der Nacht, die einbricht, wenn der erste atomare Sprengkopf explodiert“. Mit ihm blickte ich das erste Mal auf die Landschaft von Polissia, auf ihre aufgegebenen Dörfer, auf die Geisterstadt Prypjat und den Sarkophag über Block 4. Jurij Shcherbak brachte mich zu den Soldaten und den Kraftwerksarbeitern und -arbeiterinnen. Mit ihm näherte ich mich ihrem Einsatz und ihrer Verzweiflung, ihrem Mut und ihrer Ermattung. Ich begegnete Soldaten der Roten Armee, Feuerwehrleuten und vielen anderen, die für ihren Einsatz gegen das radioaktive Feuer und die Verseuchung zu Helden erklärt wurden. In den Jahren nach der Katastrophe wurde es normal, die Liquidatoren von Tschernobyl als Heldinnen und Helden zu sehen. Die Sowjetunion hatte Tausende rekrutiert, die gar nicht daran dachten, sich dem Dienst zu verweigern. Die allermeisten ahnten mehr als dass sie wussten, was diesen Einsatz anders machte als alles, was sie kannten.

Der Weg von Kiew nach Tschernobyl führt durch eine eher einsame Landschaft, die von Wäldern, Feldern und kleinen Dörfern geprägt ist. 1988 war das Überraschendste für mich, dass die Straße immer „voller“ wurde, je näher wir der Zone der Evakuierung kamen. Volle Busse pendelten zwischen drinnen und draußen. Lastwagen transportierten Baumaterial und Soldaten. Überall waren Wassersprenger auf den Straßen, die unentwegt den Asphalt abspülten und den Verkehr behinderten. Nicht außerhalb, sondern im Sperrgebiet waren sehr große Zeltlager errichtet, in denen nur Soldaten untergebracht waren. Das Militär dominierte in der Zone. Vor der Katastrophe teilte sich die Geschichte in die Zeit vor und nach dem großen Vaterländischen Krieg. Aber jetzt sagen wir auch, das war vor dem Krieg und meinen, das war vor  Tschernobyl. Shscherbak beschrieb die Schwierigkeit, die Gefahren des neuen Krieges zu begreifen. Sie lauerten überall, im lauen Wind, im Wohlgeruch aus den Gärten, im Staub der Wege, in der Milch der Kühe, in den Laub- und Kartoffelfeuern, die während unserer Fahrt von Kiew überall gebrannt hatten.


Die Natur nimmt zurück
Die Einfahrt in die Zone

Die Menschen sind hier auf einer freiwilligen Dienstreise“, erklärte mir der Leiter der Informationsabteilung des Kombinats Tschernobyl, das wenige Monate nach dem Supergau neu gegründet worden war. Dreitausend Menschen arbeiteten in den drei Blöcken des Atomkraftwerkes. Tausendfünfhundert seien jeweils in der Entseuchung und im Transport tätig und rund Zweitausend mit Versorgung und Infrastruktur beschäftigt. Zusätzlich seien immer Achttausend Soldaten in der Zone, Reservisten, die für je sechs Monate für Dekontaminierungsarbeiten einberufen wurden. Allerdings sei der genaue Umfang des Militäreinsatzes geheim. Nach der Explosion im Block 4 wurden 136.000 Menschen aus der 30 km Zone evakuiert. In den zweieinhalb Jahren seither hatten schon 230.000 Zivilpersonen offiziell in dieser Zone Aufräumarbeit geleistet. 600.000 Menschen seien in einem Tschernobyl-Sanitätsregister erfasst und würden regelmäßig untersucht.

Beim Besuch des Kontrollraumes von Block 1 erfuhren wir, dass die Atomzentrale das Leistungssoll 1988 erfüllt hatte. Die drei laufenden Reaktoren seien durch technische Veränderungen und bessere Ausbildung sicher. Für den Sarkophag würden die weltweit besten Roboter entwickelt, die auch bei höchster Strahlung funktionieren sollten.28 Jahre nach diesem Gespräch kam ich das fünfte und bisher letzte Mal nach Tschernobyl. Die Sowjetunion gab es schon lange nicht mehr. Die drei Reaktoren, die wenige Tage nach dem Supergau die Stromproduktion wieder aufgenommen hatten, liefen nicht mehr. Block 2 wurde 1991 nach einem großen Feuer in der Turbinenhalle abgeschaltet. Die beiden anderen wurden 1996 und 2000 stillgelegt, auf Druck der internationalen Gemeinschaft wegen schwerwiegender Sicherheitsmängel. Bei meinem letzten Besuch begleitete ich eine Delegation der G7-Botschafter, um „den großen Bogen“ zu besichtigen, der den Sarkophag aus dem Jahr 1986 überspannen und einschließen sollte. Die G7-Botschafter, deren Staaten einen großen Teil der Kosten trugen, sollten anlässlich des 30. Jahrestages der Atomkatastrophe an einem Gedenken für die Opfer und Helden von Tschernobyl teilnehmen. Und sie sollten zusammen mit dem Präsidenten der Ukraine den großen Bogen bewundern. Das Werk der Baumeister und die Leistung der Arbeiter hat uns beeindruckt. Wir fühlten uns winzig unter der hohen Hülle. Der Bogen habe etwas von einer Kathedrale, sagten einige. Eine Kathedrale der Apokalypse, sagten andere.

Der alte Sarkophag, der 1986 aus Tausenden Tonnen Stahl und Zehntausenden Tonnen Beton errichtet worden war, wirkte klein, irgendwie schäbig und auch nicht so gefährlich angesichts der Größe und Perfektion der neuen Hülle. Schon 1988 hatten sowjetische Ingenieure erklärt, der unter dem Druck der Katastrophe sehr schnell und improvisiert errichtete Sarkophag werde den Belastungen nicht lange standhalten. Aber erst im Jahr 2004 wurden Planungen für die neue Hülle konkret: der Bogen ist 162 Meter lang und 108 Meter hoch. Er ist 36.000 Tonnen schwer und hatte 1.7 Milliarden Euro gekostet. Im November 2016 ging die Nachricht um die Welt, die neue Hülle sei auf den dafür gelegten Schienen erfolgreich über den havarierten Block 4 und seinen Sarkophag gezogen worden.

Es ist verlockend zu denken, 30 Jahre nach der Katastrophe sei die Lage unter Kontrolle. Der große Bogen in Tschernobyl dient den Anhängern der Atomkraft als Beleg genau dafür. Die G7-Botschafter sagten während des Besuches zum 30. Jahrestag in einer nüchternen Veranstaltung im ehemaligen Atomkraftwerk Tschernobyl erneut viele Hundert Millionen Euro zu, damit die Arbeiten am Bogen abgeschlossen und der Rückbau der Reste von Block 4 vorbereitet werden kann. Je mehr Reden ich über den Bogen, diese Kathedrale der Apokalypse hörte, desto mehr verstand ich die Botschaft. Dass der Mensch eben doch das atomare Feuer bezwingt. Weil die Beherrschbarkeit der atomaren Katastrophe suggeriert wird, erklärt die Großzügigkeit mancher Geldgeber.

In der Stadt Tschernobyl

Die Fernsehserie „Chernobyl“, die auf dem Buch der Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch fußt, hat weltweit und auch in der Ukraine großes Aufsehen erregt. Der für mich befremdliche Katastrophentourismus in die Zone boomt. Aber in einer Zeit, in der viele Liquidatoren und Zeitzeugen schon tot sind, könnten viele erkennen, was Jurij Shcherbak sah, als er 1986 „hinter den Vorhang der Nacht“ blickte. Oder was Alexijewitsch meinte, als sie ihr Buch „Eine Chronik der Zukunft“ nannte. Wer sich den Blick nicht vom großen Bogen verstellen lässt, der sieht gleich nebenan drei uralte Reaktoren, deren Brennstäbe noch in Wasserbecken lagern. In der inneren Zone gibt es mehr als 800 provisorische und einige permanente Lagerstätten für sehr große Mengen sehr langlebiger und gefährlicher radioaktiver Abfälle. Fast 5 Prozent des Territoriums der Ukraine müssen wegen der Kontamination des Bodens überwacht werden, inklusive über 2000 große und kleine Ortschaften. Das Bassin des Dnipro, in den der Prypjat mündet, muss dauerhaft überwacht werden, denn der Fluss versorgt 32 Millionen Menschen mit Wasser und 1.8 Millionen Hektar Land mit Bewässerung. Die Gesundheit von Hunderttausenden von Ukrainern, die einer akuten Strahlenexposition ausgesetzt waren, muss regelmäßig kontrolliert werden. Sechs Millionen Menschen leben in der Ukraine, Belarus und Russland in kontaminierten Gebieten. Seit der Unabhängigkeit 1992 hat die Ukraine lange Zeit einen großen Teil des Staatshaushaltes für die Bekämpfung der Tschernobyl Folgen ausgeben müssen. Shcherbak hat mir vor und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und vor der Unabhängigkeit der Ukraine gezeigt, dass Gorbatschow und Glasnost auch wegen Tschernobyl und den korrupten Eliten des sowjetischen Atomstaates scheiterten. An der Katastrophe und der Bekämpfung der Folgen scheitern wir immer noch alle.

Der erste Präsident der unabhängigen Ukraine, Leonid Krawtschuk, sprach zum dreißigsten Jahrestag der Katastrophe von Tschernobyl an der polytechnischen Universität in Kiew. Mit Bitterkeit stellte er fest, dass die Erfahrung von Tschernobyl die Ukrainer 1992 dazu bewog, in einer von ihm angesetzten Volksabstimmung für die Aufgabe aller Atomwaffen zu stimmen. Damals habe er gedacht, dass sei sehr klug. Er habe gehofft, deshalb als guter Präsident in die Geschichte einzugehen. Seit Russland im Jahr 2014 die Ukraine angegriffen habe, sei er beschämt über seine Fehleinschätzung. Seit 2014 leben die Ukrainer schon wieder in einem Krieg, den sie nie wollten.

Rebecca Harms
Zuerst veröffentlicht von Ukraine verstehen / Zentrum Liberale Moderne 


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autor(en): Rebecca Harms

 

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